Wir leben in einer schrecklich hektischen Welt, wo vor allem der Leistungsgedanke zählt. Wir definieren uns darüber, was wir erreicht haben, vergleichen uns mit anderen und brauchen Anerkennung von außen, um unser Selbstwertgefühl aufzubauen. Höher, schneller, weiter ist die Devise.
Auch auf der Matte fällt es Yogis grad am Anfang schwer, bei sich zu sein und sich nicht mit anderen zu vergleichen. Ich selbst hab Jahre gebraucht, bis ich ganz auf meiner Matte angekommen bin. Und selbst da erwische ich mich immer mal wieder dabei, dass ich auf meine inneren Antreiber höre, anstatt darauf, was mein Körper grade braucht.
Die bekannten Yang-Yogastile wie Hatha-Yoga oder Vinyasa-Yoga sind schnell, kraftvoll und fühlen sich damit wiederum sehr leistungsorientiert an. Zudem werden wir auf allen Social-Media-Kanälen permanent mit wunderschönen Yogis in den akrobatischsten Asanas konfrontiert, die uns unsere eigene Insuffizienz vorhalten. Jeder Körper ist anders. Selbst ich bin nach neunjähriger, mittlerweile täglicher Yogapraxis von vielem, was mir mein Handy da Tag für Tag präsentiert weit entfernt.
Ich finde darum, dass es Zeit ist mal loszulassen und ein Yoga zu üben, dass dir Raum gibt, ganz bei dir zu sein und keine Perfektion fordert.
Warum heißt es eigentlich Yin Yoga?
Der Name Yin Yoga leitet sich von der daoistischen Einteilung unserer Welt in Yin und Yang ab. Yang verkörpert hier das Männliche, Aktivität und Energie. Es steht für alles warme, harte und helle. Yin dagegen ist die Verkörperung des Weiblichen, der Ruhe und Passivität. Adjektive für Yin sind dunkel, weich und kalt. Deine rechte Körperseite ist übrigens deine Yang-Seite, also die männliche und deine linke Körperseite ist die Yin-Seite, also deine weibliche Seite.
So wie in dem schwarz-weißen Symbol, dass alle mit Yin und Yang verbinden (es heißt übrigens Taijitu), wo Yin mit dem Yang untrennbar verbunden ist und die beiden nur zusammen zur Harmonie des Kreises führen, sind auch in uns diese Energien verbunden.
Yin Yoga hilft dir, diese Harmonie wieder herzustellen, aus dem Yang heraus zu kommen, deine weibliche Seite zu stärken und so wieder in deine volle Kraft und innere Harmonie zu kommen.
Was unterscheidet Yin Yoga von Yang Yoga?
In den aktiven Yang-Stilen wie Vinyasa oder Ashtanga wird der Körper vorher tüchtig aufgewärmt, z.B. durch die Sonnengrüße. Es wird viel mit Muskelkraft gearbeitet und darauf geachtet, dass die Ausrichtung deines Körpers (das. sogenannte Alignment) perfekt ist. Der Rücken soll immer schön grade sein, die Beine nach Möglichkeit durchgestreckt und der ganze Körper ist vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen aktiv.
Im Yin Yoga werden die einzelnen Asanas passiv, also ohne Muskeleinsatz eingenommen und lange (im Schnitt 3 Minuten) gehalten. So erlaubst du es deinem Körper mit Hilfe der Schwerkraft immer tiefer in die Position zu schmelzen und erreichst ganz andere Bereiche deines Körpers. Auch Ausrichtung spielt hier keine Rolle. Der Rücken darf ruhig rund sein, die Beine gebeugt, der Kopf darf hängen. Alle Muskeln sind entspannt. Es geht hier nur darum Anspannung loszulassen und immer tiefer in die Asana zu sinken.
Was bewirkt Yin Yoga?
Grobstofflich gesehen erreichst du mit Yin Yoga eine viel tiefere Dehnung weil es die Faszien anspricht. Faszien sind bindegewebige Hüllen um unsere Muskeln herum. Jeder Muskel ist mit einer Faszie bedeckt und alle Faszien sind miteinander verbunden. In der Theorie des Yin Yoga spricht man davon, dass Faszien verfilzen können und uns so starr und unbeweglich machen. Diese Theorie nutzt übrigens auch das Faszienrollen. Da alle Faszien miteinander verbunden sind, kann eine verfilzte Faszie an einer Körperpartie (z.B. an den Waden) eine Fehlhaltung und Schmerzen in einem ganz anderen Bereich unseres Körpers (z.B. im Nacken) verursachen. Durch das tiefe Dehnen, dass wir im Yin Yoga erreichen können, wirken wir diesen Verfilzungen entgegen und tun etwas für den ganzen Körper.
Energetisch gesehen arbeitest du im Yin Yoga in die Energiebahnen deines Körpers, die sogenannten Nadis. Bekannter ist dir hier wahrscheinlich der Begriff Meridiane, der aus der traditionellen chinesischen Medizin stammt und auch für unsere Energiebahnen steht. Mit den unterschiedlichen Asanas kannst du einzelne oder gleich mehrer Energiebahnen anregen, so dass Prana (oder das Chi, bleibt man in der traditionellen chinesischen Terminologie) zwischen den Chakren frei fließen kann.
Manchmal wird es im Yin Yoga noch feinstofflicher und du erreichst noch tiefere Schichten. Vielleicht kennst du das auch, dass dir in manchen Asanas plötzlich ganz komisch wird oder dir die Tränen kommen. Mir passiert das manchmal bei hüftöffnenden Asanas. Man sagt in der Hüfte können sich Emotionen aufstauen. Die liebe Simone vom Yoga-Blog Amy's love hat hierüber mal einen tollen Artikel geschrieben. Schaut doch auch mal dort vorbei (Hips don't lie - warum die Hüftöffner praktizieren solltest).
Warum heißen die Asanas im Yin Yoga ganz anders?
Die meisten Schüler, die beim Yin Yoga landen habe schon einige Erfahrung mit Yang Stilen. Würde der Lehrer die Asanas mit den im Yang bekannten Namen ansagen, würde sofort ein Schalter im Kopf der Schüler umgelegt werden und sie würden die Asana so ausführen, wie sie sie aus dem Yang kennen. Da es im Yin Yoga aber um was ganz anderes geht, schafft der neue Name Raum für etwas Neues, sich ganz neu auf die Position einzulassen und sie als etwas ganz Neues zu erfahren.
Denn im Yin Yoga gibt es kein richtig oder falsch. Jeder ist ganz bei sich, bei seiner Atmung und erreicht so viel, wie der eigene Körper eben grad zulässt.
Für wen ist Yin Yoga das richtige?
Diese Frage kann ich ganz klar beantworten: für jeden!
Yin und Yang sind eine Einheit. Und genauso ist es bei den beiden Yogastilen.
Generell kann man aber sagen, dass Yin Yoga gut ist für sehr aktive Menschen mit viel Power. Im Ayurveda wären das Pitta-Typen. Auch Menschen mit einer Vatta-Konstitution, die eher luftig und sprunghaft sind und den Kopf immer in den Wolken haben profitieren sehr vom Yin Yoga. Yin Yoga ist erdend und Erdung ist genau das, was diese beiden Typen brauchen. Einem Kapha-Menschen würde ich wahrscheinlich eher zu einer Yang-Praxis raten, da er aus sich heraus eher ruhig, unbewegt und träge ist und kein Problem mit der Erdung hat.
Yin ist die kalte Seite, auch die Mondseite im daoistischen System. Deswegen ist Yin Yoga ein schöner Stil für heiße Sommertage, wie wir sie jetzt hatten. Yin Yoga ist nämlich sehr kühlend. Im Winter muss ich beim Yin Yoga tatsächlich Socken tragen, weil ich immer kalte Füße davon bekomme.
Und? Hab ich dich jetzt neugierig gemacht? Na ich hoffe doch.
Schau doch einfach mal, ob es nicht eine Yin Yoga-Klasse in deinem Studio gibt und lass dich mal drauf ein.
In diesem Sinne...Namaste,
deine Nadine